Teil 2. Vor zwei Jahren ging ein lang gehegter Traum in Erfüllung. Ich bin offiziell anerkannte Schweizerin mit rotem Pass.
Seit 1999 in der Schweiz, hatte ich nach vielen Jahren voller Orts- und Wohnungswechsel im Jahr 2014 beschlossen, Wurzeln zu schlagen. Im schönen Städtchen Lenzburg angekommen, schwor ich mir, länger zu bleiben, einen Freundes- und Bekanntenkreis aufzubauen, mich heimisch zu fühlen, endlich alle Voraussetzungen für die Einbürgerung zu erfüllen. 2020 wurde mir vom Einwohnerrat das Lenzburger Gemeindebürgerrecht zugesichert, und 2021 erhielt ich die Schweizer Bürgerrechte.
Aus Rechten erwachsen Pflichten. Klingt das altertümlich? Aus meiner Perspektive ist es ein Prinzip des Lebens. Wir sind immer aufgefordert, nicht nur dankbar für das Geschenk des Lebens selbst zu sein, sondern auch zum Leben und Lebensglück aller anderen Lebewesen beizutragen. Wobei „andere“ je nach philosophischer Auffassung falsches Wissen ist. Denn wir sind nicht getrennt von „anderen“. Nichts wäre möglich im Leben ohne andere. Es gäbe uns gar nicht ohne andere. Alles Lebendige ist verbunden.
Aus Rechten erwachsen also in meinen Augen Pflichten. So heisst das zum Beispiel auch, der Demokratie zu dienen. Wie bereits an anderer Stelle beschrieben bewunderte ich schon früh die direkte Demokratie in der Schweiz. Nun bin ich hochmotiviert, mich für das Gedeihen dieser Staatsform zu engagieren.
Zu Taten! Schon vor der Einbürgerung durfte ich Mitglied der neu formierten Gesellschaftskommission in Lenzburg sein. 2020 engagierte ich mich für die Konzernverantwortungsinitiative, die am Ständemehr scheiterte. Für die Einwohnerratswahlen ebenfalls 2020 baute ich eine Webseite für die Grünen Stadt Lenzburg auf, erstellte Marketingmaterial, Plakate und kandidierte auf Platz 3 der Grünen Liste. Wir hatten Erfolg, und konnten unsere Sitze von zwei auf vier verdoppeln. Als frisch gebackene Einwohnerrätin gab es viel zu lernen und zu lesen. Ein weiteres Engagement kam hinzu, die Mitarbeit in der Geschäftsprüfungs- und Finanzkommission. Die Organisation, die Funktionsweise und die Menschen in der Städtische Verwaltung genauer kennenzulernen macht mir Freude. In Lenzburg leite ich die Ortspartei, die seit Anfang 2022 als Verein organisiert ist. Im Januar 2023 wurde ich von der Grünen im Kanton angefragt, ob ich bereits sei für den Nationalrat zu kandidieren. Wow!
Was bedeutet das alles zeitlich und finanziell? Für alle Lesenden, die nicht mit der Schweiz vertraut sind: Das Schweizerische politische System ist ein Milizsystem. Nach Wikipedia: „Als Milizsystem oder Milizprinzip bezeichnet man den Teilaspekt (Organisationsprinzip) des politischen Systems der Schweiz, wonach öffentliche Aufgaben meist nebenberuflich ausgeübt werden.“ Politikerinnen und Politiker erhalten Sitzungsgelder für ihre Arbeit. Ein Beispiel: für eine Einwohnerratssitzung erhält man von der Sitzung Unterlagen im Umfang von mehreren Dutzend Seiten, die es zu studieren gilt. Es folgen Sitzungen in den Fraktionen, und ggf. auch noch weitere Besprechungen mit Politikern anderer Parteien, z.B. wenn man selber einen Vorstoss ausgearbeitet hat. Schliesslich die mehrstündige Sitzung selber. Da kommen einige Stunden Arbeit zusammen. Einmal habe ich es ausgerechnet: Sitzungsgeld dividiert durch Zeiteinsatz ergab einen Stundenlohn von rund 5 CHF. Natürlich ausweisbar auf der Steuererklärung. Einen Teil der Einnahmen geht dann noch an die Kasse der Ortspartei. Mit anderen Worten: die Politik ist ein zeitintensives Hobby.
Und ein menschlich sehr lohnendes Hobby. Bereits erwähnt habe ich die tieferen Einblicke in die Organisation unseres Gemeinwesens, die mich sehr bereichern. Hinzu kommt die Freude an der Mitgestaltung: zuhören, überlegen, argumentieren, Lücken in Vorlagen finden, Verbesserungen einbringen. Am meisten freut mich, dass ich über das politische Engagement mit ganz vielen Menschen Bekanntschaft schliessen konnte, die ich auf anderem Weg kaum je kennengelernt hätte.