Frau Kroll wird Schweizerin

Teil 1. Der Traum von der Wahlheimat.

Ich erinnere mich, dass ich als Kind immer etwas neidisch auf die Schweizer war. Ich bin 1963 in Konstanz, direkt an der Grenze zur Schweiz, geboren und bis 1976 dort aufgewachsen. Den besten Teil meiner Kindheitssommer verbrachte ich in der Schweiz, in der geliebten Kreuzlinger Badi. Den besten Teil meiner Kindheitswinter verbrachte ich Skilaufend am nicht weniger geliebten Kronberg im Appenzeller Alpstein. Dass die erwachsenen Schweizerinnen zu dieser Zeit im Appenzell noch nicht wählen und abstimmen durften, wusste ich nicht. Doch das ist eine andere Geschichte.

Nicht wegen der Schokolade war ich neidisch. Sondern weil die Schweizer keine so dunkle Nazi-Vergangenheit zu haben schienen. (Dass auch die Schweizer kein fleckenloses Geschichtshemd trugen, war damals noch nicht weithin bekannt.) Und weil man ihnen, den Schweizern, zutraute, als Staatsbürger viel Einfluss auf die Geschicke ihres Staates zu nehmen. „Direkte Demokratie“ war ein Zauberwort für mich.

In der Schule lernte ich, dass die Alliierten nach dem Desaster, das in der Weimarer Republik zur Wahl Hitlers geführt hatte, der direkten Einflussnahme des Souveräns einen Riegel vorgeschoben hatten. Sie trauten dem „Volk“ (übrigens ein Unwort im Deutschland der 1970er Jahre) nicht über den Weg. Sie etablierten mit dem Grundgesetz eine staatliche Verfassung, in der den Bürgern lediglich zugebilligt wurde, alle vier Jahre ein Parlament zu wählen, das dann wiederum die Spitze der Exekutive wählt.

Waren wir Deutschen wirklich so demokratieunfähig? Waren wir wirklich so schlecht, so viel schlechter als alle anderen? Was trug ich Böses in mir? Musste ich damit rechnen, als Erwachsene wie meine Grosseltern unversehens zur Mitläuferin zu mutieren? Konnte ich Zivilcourage trainieren? Was war an den Schweizern besser, dass sie so vieles und so oft mitbestimmen durften?

Es waren wohl derartige Fragen, die in dem Kind den Wunsch weckten, der Deutschen Haut und Vergangenheit zu entfliehen. Doch dass ich nun tatsächlich heute nicht nur Deutsche, sondern auch Schweizerin bin, ist keinem „weg-von-etwas“ geschuldet. Denn irgendwann habe ich verstanden, dass ich nicht Schuld an der Vergangenheit trug. Dass das Böse in jedem von uns erweckt werden kann, ebenso wie das Gute.

Dass ich heute tatsächlich Schweizerin bin, entspringt vielmehr diesem tiefen Wunsch, endlich Wurzeln schlagen zu dürfen. Ich bin in meinem Leben sehr oft umgezogen, und habe oft erlebt, wie es ist, wenn man nicht oder noch nicht oder immer noch nicht dazugehört. Schon in meiner Geburtsstadt gab es Menschen, die mir klar machen wollten, dass ich keinen Anspruch darauf hätte, Konstanz als meine Heimat zu betrachten. Denn meine Eltern waren nicht von dort. Im Gegensatz zu den Eltern der anderen Kinder in der Nachbarschaft.

Meine Eltern waren Kriegskinder. Der Vater wurde in Elbing geboren, das heute Elbląg heisst und in Polen liegt. Als mein Vater dreizehn Jahre alt war, wurde aus dem Gymnasiasten mit Zukunftsträumen ein Flüchtlingskind ohne Hab und Gut. Auf sich allein gestellt, schlug er sich ein Jahr lang in Thüringen auf Landwirtschaftsbetrieben durch, bevor er schliesslich in Baden-Baden landete, wo er auch seine Mutter wiederfand. Ostpreussische Flüchtlinge wurden nicht mit offenen Armen aufgenommen. Die Menschen litten überall in Deutschland an den Folgen des Kriegs. Diese zerlumpten, hungrigen Gestalten brauchte man da nicht auch noch.

Auch Geschichte der Mutter ist von Heimatverlust geprägt. Sie war neun Jahre alt, als das Feuer der abgeworfenen Phosphorbomben den Nachthimmel ihrer Geburtsstadt Wuppertal erleuchtete. Meine Mutter spricht nicht gern über Sirenenalarme und Luftschutzkeller. Die fünfköpfige Familie der Lieblingscousine wurde im Inferno einer von vielen schrecklichen Nächten ausgelöscht. Rettung brachte die weitsichtige Grossmama Anna, meine Urgrossmutter. Sie war früh im Krieg von Wuppertal nach Konstanz gezogen, ihre Tochter Gerda ebenfalls, und die kleine Nichte Karin, meine Mutter, folgte bald nach. Konstanz bot wegen der Nähe zur Schweiz Sicherheit vor den Bomben der Alliierten. Das Paradies auf Erden zu dieser Zeit.

Warum ich das alles erzähle? Ich glaube, dass dieses Flüchtlingstrauma, diese Heimatlosigkeit meiner Eltern lange Zeit auch mein Leben prägten, ohne dass ich das so hätte benennen können. Mehrmals umgezogen. Nirgendwo richtig daheim, immer die Dazugezogene, die Neue, die Andere.

Nur in Berlin (1983 – 1999) war das anders. Berlin besteht nämlich fast nur aus Dazugekommenen. Von-woanders-sein ist das Normale. Echte Berliner in meinem Freundeskreis waren Exoten.

Als ich 1999 in die Schweiz kam, war ich mal wieder die Andere. Zum Glück verstand ich die St. Galler Mundart sofort, denn Alemannisch, die Mutter aller Deutsch-Schweizerischen Mundarten, ist auch die Mutter des Konstanzer Dialekts. „Konschtanzerisch“ war meine Gassensprache. Zuhause wurde Hochdeutsch gesprochen, denn meine Eltern waren ja … Sie wissen schon.

Ich war bald wild entschlossen, mich aus meiner neuen, selbstgewählten Heimat Schweiz nicht vertreiben zu lassen. Mit dem Selbstbewusstsein der Ex-Berlinerin ausgestattet, erhob ich innerlich den Anspruch, dazuzugehören, wo auch immer ich gerade war. Menschsein bedeutete für mich: dazugehören. Selbstverständlich dazugehören dürfen.

Ich reagierte anfangs allergisch, wenn Schweizerinnen oder Schweizer ins Hochdeutsche wechselten, sobald sie merkten, dass ich „keine von ihnen“ war. Ich fühlte mich ausgeschlossen. Später lernte ich, dass viele gar nicht bewusst wechseln, und die allermeisten dies auch gar nicht böse meinen. Ich entdeckte sogar, dass ich selber mich oft unbewusst sprachlich an mein Umfeld anpasse.

Von Anfang an bewunderte ich die Schweizerinnen und Schweizer für ihre Höflichkeit und freundlichen Umgangsformen. Meine direkte Berliner Art kam mir ungehobelt, unzivilisiert vor. Ich lernte. Und ich lerne noch, so hoffe ich. Allerdings habe ich mich bis heute nicht daran gewöhnt, wenn Menschen sich dafür entschuldigen, dass sie sich beispielsweise im Supermarkt etwas näher als einen halben Meter kommen. Berliner entschuldigen sich nämlich auch nicht bei versehentlichem Körperkontakt. Wie seltsam wäre das schliesslich zu Pendlerzeiten in vollgestopften U-Bahnen?

Zurück zur Schweiz. Ich wollte also in der Schweiz bleiben, ich wollte offiziell dazugehören. Schon 2000 wusste ich: ich will einen Schweizer Pass. (Warum es einige Jahre dauerte, ist eine andere Geschichte, die Sie hier nachlesen können.) Was der Pass für mich heute bedeutet, ob ich immer noch Freude habe an der Direkten Demokratie, und welche innere Verpflichtung für mich aus dem Schweizerin-Sein erwächst, lesen Sie im 2. Teil, Frau Kroll als Schweizerin.