Der typische Leser des Swiss Gliders ist an Wettkampfberichten herzlich wenig interessiert. Schon eher möchte er etwas über neue Fluggebiete erfahren.
Castelo, Brasilien: Kurze-Hosen-Wetter, herzliche Menschen, üppige Vegetation, liebliche Landschaft, gutes Essen, preiswerte Caipirinhas und jeden Tag Gleitschirmfliegen – dieses Fluggebiet, drei Autostunden von Vitoria im Hinterland des Bundesstaates Espirito Santo gelegen, ist auch für Nicht-Weltcup-Piloten geeignet.
Wer die Dreiviertelstunde Auffahrt, vorbei an Kaffeeplantagen und Rinderherden, unter Palmenalleen und durch malerische Siedlungen nicht scheut, wird mit einem wunderschön gepflegten Startplatz, leichtem bis mittlerem Aufwind am Startplatz Uba und zuverlässiger Thermik in Startplatznähe belohnt. Der erste Landeplatz liegt in Gleitwinkelnähe, weitere direkt an der Strasse nach Castelo folgen. Unzählige Urubus, brasilianische Geier, zeigen die Thermik verlässlich an, und im Kessel zwischen Uba und Castelo (Luftdistanz 12 km) trägt es oft über den angrenzenden Hügelketten – ganz wie zu Hause. Streckenfliegen kann hier kinderleicht sein: Im kürzesten von sieben Tasks fliegen wir bei 8/8 Bewölkung einen Zickzackkurs über 45 km, und immerhin 79 von 115 Piloten landen im Ziel.
Eine klassische Route Richtung Meer funktioniert ebenfalls ganz gut. Wir fliegen sie am letzten Tag als Task über 55 km. 97 Piloten erreichen das Ziel, der Sieger benötigt nur 1 h 35 min. Ist die Meerwindkomponente schwach, kann man die Strecke auch gut allein fliegen, denn sie verläuft zunächst entlang der Abrisskanten und orientiert sich später an gut sichtbaren, thermikauslösenden Kegeln und Hügeln im Gelände.
Zum Fliegen längerer Strecken ist Castelo nach zwei Aufenthalten – im März 2006 und nun Ende September 2008 -, trotzdem nicht mein Lieblingsgebiet. Das liegt zum einen an den Kabeln, die kreuz, quer und tief im Gelände gespannt sind, und die bei Aussenlandungen schlecht erkennbar sind. Zum anderen ist die Thermik in den flacheren Gebieten jenseits von Castelo unzuverlässig und eher schwach, und macht das Fortkommen mühsam, langsam, und nicht selten zur Glückssache: „Fünf Stunden für läppische 75 km,“ lacht Michael Sigel, als dritter von nur sechs Piloten im Ziel, am Ende des längsten Tasks am dritten Tag. Auch Stefan Schmoker, der 20 Sekunden später das Ziel überfliegt, berichtet von Strapazen: „Total anstrengend. Etwa drei, vier Mal habe ich nur 20 Meter über Boden wieder aufgedreht.“
Der letzte Weltcup der Saison verläuft spannend wie ein guter Krimi. Am nächsten Tag fliegt Urs Schönauer im vierten Task seinen ersten Laufsieg im Weltcup ein. Im letzten Stück fliegt er eine freche, direkte Linie, erwischt mit dem Glück des Tüchtigen einen Megaschlauch, und zusammen mit dem zweitplatzierten Pepe Malecki (D) steht er satte 45 Minuten vor dem Rest des Feldes im Ziel. Weil nicht genügend Piloten die Minimumdistanz erreichen, zählt der Lauf für den Sieger nur 850 statt 1000 Punkte. Damit wird der Task nur in der Anlasswertung, nicht aber in der Saisonwertung berücksichtigt. Als Folge davon fliegen wir sieben statt der üblichen sechs Läufe in einem Weltcupanlass.
In einem Gebiet wie Castelo gewinnt von den Weltbesten nicht, wer am schnellsten fliegt, sondern wer am wenigsten Pech mit Absaufern hat. Für Stefan Schmoker läuft es am Anfang nicht so gut, nur 38. wird er im ersten Lauf. Doch er steigert sich, und mit weiteren soliden Läufen gewinnt er schliesslich verdient seinen ersten Weltcup-Anlass. Andy Aebi verfehlt mit dem vierten Platz das Podest nur knapp. Andy ist darüber aber nicht weiter traurig, denn nach 21 Wertungsläufen in fünf Anlässen der Saison 2008 steht er an der Spitze des Klassements. Strahlend vor Glück tritt er die Nachfolge von Chrigel Maurer an: „Wahnsinn!“. Die guten Nachrichten reissen an jenem letzten Abend in Castelo nicht ab. Von Andy erfahre ich kurz nach der Veröffentlichung der Resultate, dass ich zum zweiten Mal Weltcupsiegerin geworden bin. Ausserdem gewinnen wir die Nationenwertung in Brasilien, und Team Advance landet ebenfalls vorn. Tudo bem – alles klar!
