Mentaltraining für Gleitschirmpiloten
Vor drei Jahren entdeckte Anja Kroll das mentale Training. Heute weiss sie, dass man sich mit Hilfe des mentalen Trainings am Knie verletzen aber auch den Weltcup gewinnen kann. Ein Erfahrungsbericht / SG08-4_mentaltraining.
Thermikträume auf CD
Den Wunsch, mich mit den Möglichkeiten des mentalen Trainings im Gleitschirmfliegen zu befassen, verspüre ich das erste Mal, wenn die Thermik schwächer wird, und der Winter ins Land zieht. Was tun, um die in glücklichen Sommerstunden antrainierten Fähigkeiten zu behalten oder gar auszubauen?
Eine naheliegende Lösung finden wir bei den Sportkletterern. Da gibt es eine Audio-CD, auf der zu entspannender «Gschpürsch-mi»-Musik eine ruhige Männerstimme mit einer klassischen Entspannung von der Zehen- bis zur Haarspitze beginnt. Derart entspannt folgt die Visualisierung einer Klettertour und führt schliesslich zur Affirmation. Affirmationen sind festigende und stärkende Zusprüche nach dem Muster: ich handle ruhig und überlegt.
Flugs basteln mein Freund Jörg und ich eine Gleitschirm-CD. Die Texte werden fürs Fliegen adaptiert, aufgenommen und abgemischt. Wann immer ich Lust habe, höre ich mir die Sequenzen am Abend vor dem Einschlafen an. So kann ich auch im Winter lebhaft von einem Streckenflugtag von A wie «Aufwachen und in den vielversprechend blauen Himmel schauen» bis Z wie «Zusammenlegen» träumen. Und ich vergesse in der langen Zwangspause nicht, wie man startet, wie sich die Thermik anfühlt und wie man taktisch fliegt. Der Frühling trifft mich nun vorbereitet an.
Textproben aus der VisualisierungBlauer Himmel und wenig Wind – Flugwetter! Ich sitze im Bus zum Startplatz und freue mich auf einen weiteren Flugtag. Selbstvertrauen und Zuversicht erfüllen mich. Ich bin neugierig. Ich will entdecken und Erfahrungen sammeln. Ich fühle mich wach, entspannt und aufmerksam. Das Gefühl der Freiheit erfüllt mich. Ich bin den Vögeln verwandt. Heute kann ich alles erreichen, heute kann ich überall hinfliegen. Ich will den Tag erobern! (…) Ich spüre den Startwind im Gesicht. Das Knistern des Tuchs und der Blick in den Himmel geben mir Vertrauen und Sicherheit. Ich lege den Schirm aus. Der Wind ist günstig, der Luftraum frei. Ich ziehe ruhig auf, kontrolliere den Schirm, drehe mich sanft auf der Achse aus. Voller Lust belaste ich die A-Gurte und beschleunige meine Schritte. Ich hebe ab. Ich fliege! (…) Die Luft fühlt sich gut an. Ich fliege in die erste Thermik ein und beginne zu zentrieren. Mit jedem neuen Kreis bin ich im besten Steigen. Bis zur Basis beobachte ich aufmerksam den Verlauf der Steigwerte und der Windrichtung. Ich registriere jede Scherung und Luftmassengrenze. (…) Ich überfliege das Ziel. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchströmt meinen Körper. Nur dieser eine Moment zählt! Ich speichere ihn und kann ihn jederzeit wieder abrufen. Ich geniesse diesen Augenblick. Dann lande ich sanft. Ich spüre die Anstrengungen des Fluges, doch mein Geist ist froh und leicht und voll der Eindrücke des heutigen Tages. Ich lege den Schirm zusammen. |
Doch zugegeben, so eine CD – egal wie toll sie gemacht ist – wird langweilig, wenn man sie oft hört. Was gibt es da noch? Wie kann ich meine Leistung im Streckenfliegen und im Wettkampf durch mentales Training steigern? Dies führt mich direkt zum…
Probehandeln
«Mentaltraining ist Probehandeln.» Dies ist das Credo von Reiner Rose, dem segelfliegenden Vater des OLC und Initiator des Mentaltrainings im Segelfliegen. Mentaltraining ist bei den Leistungssportlern seit den 80er Jahren nicht nur theoretisch begründet und wohlbekannt, sondern wird auch hoch geschätzt. Ohne mentale Fitness könnte heute kein Roger Federer die Welt der Filzkugel dominieren oder das Alinghi-Team gewinnen. Während es für motorisch orientierte Sportarten schnell plausibel ist, dass z.B. das Durchfahren eines Slalomkurses im Kopf eine sinnvolle Vorbereitung auf den tatsächlichen Lauf ist, scheint die Anwendung bei einem stark geistig orientierten Sport wie dem Gleitschirmfliegen weniger offensichtlich.
Bei einem Wochenendseminar von Reiner Rose und Florian Kirchberger, einem studierten Sportler, lerne ich zusammen mit 16 anderen Piloten die Techniken, das Mentaltraining im Segelfliegen einzusetzen. Theorie gehört dazu, und so erläutern uns Florian und Reiner die psycho- und physiologischen Hintergründe des mentalen Trainings. Dann lernen wir Drehbücher schreiben. Das sind kleinste Einheiten von Flugsituationen, die wir filmreif beschreiben. Wie schon bei der eingangs erwähnten Visualisierung kommt es auch hier darauf an, die Handlung mit viel Gefühl und lebhaften Sinneseindrücken zu schildern. Diese Drehbücher schreiben wir zunächst in kleinen Arbeitsgruppen. Das ist spannend! Wie finde ich einen Schlauch? Wie steige ich (im Pulk) optimal nach oben? Wie handle ich im Gleitflug? Die Diskussionen mit den anderen Piloten, darunter auch mehrfache Landes- und Europameister, ist die Seminargebühr allein schon wert.
Manche Seminarteilnehmer haben ein bestimmtes Problem: in einer typischen Situation handeln sie nach einem Muster, das nicht optimal ist. Hier ist das Drehbuch ein ideales Instrument, ein neues, besseres Muster einzuüben. Zum Beispiel der Rückwärtsstart mit dem Gleitschirm: Beschreibe lebhaft und mit Freude den idealen Start, spiele dieses Drehbuch vor deinem inneren Auge wiederholt ab, und du baust dir damit einen virtuellen Erfahrungsschatz auf, der dir in der realen Situation zugute kommt. Du bist dann nicht mehr damit beschäftigt zu überlegen, wie die Leinen richtig gekreuzt werden oder wie du den schräg steigenden Schirm korrigieren musst… Nun tust du es einfach, weil du es bereits viele Male zuvor geübt hat.
Ein wichtiger Tipp: ein Drehbuch muss technisch richtig sein. In diesem Seminar wird jedes Drehbuch minutiös geprüft, und Reiner gibt Tipps zur Verbesserung. Und dieser Service endet nicht etwa mit dem Wochenende! Nach dem Seminar dürfen wir zu weiteren Situationen Drehbücher schreiben und sie Reiner zusenden. Er liest sie alle und gibt viele gute Empfehlungen zur Verbesserung.
Textprobe aus dem Drehbuch «Thermik finden»Nach der Querung bin ich tief angekommen. An der erwarteten Stelle finde ich keine Thermik vor. Mir bleibt nur wenig Höhe. Cross-Check! Ich besinne mich auf die Alternativen, die ich während des Gleitflugs bereitgelegt habe und überprüfe, ob neue Varianten hinzugekommen sind – auch ausserhalb des Kurses. Blitzschnell sammle ich Informationen. Ich spüre den Wind im Gesicht, lese die Bodengeschwindigkeit auf dem GPS ab. Ich lese den Gleitwinkel auf dem GPS ab und den Sinkwert auf dem Vario. Ich achte aufmerksam auf sichtbare Thermikanzeichen: Wölkchen, kreisende Vögel, steigende Piloten, flirrende Luft, sich bewegende Bäume. Ich suche das erreichbare Gelände nach Auslösepunkten ab. Ich vergleiche meine neusten Eindrücke mit dem geistigen Modell. Ich kalkuliere, welche der Alternativen die sicherste ist. Ich überprüfe mein Ergebnis. In diese Richtung fliege ich sofort mit der Geschwindigkeit des minimalen Sinkens. Je näher ich der erwarteten Thermikquelle komme, desto sensibler bin ich für die Reaktionen meines Schirms. Ich atme ruhig. Ich bin entspannt und aufmerksam. Ich fliege die Stelle so an, dass ich frei einkreisen kann, sobald ich die Thermik finde. Mein Schirm wird unruhig. Ich gebe ihm mehr Richtungsfreiheit. Ich spüre, dass die Luft, die über mein Gesicht streicht, ein klein wenig wärmer wird. Ich freue mich, mein Ziel ist nah. Das Vario fängt an zu piepen, der Schirm steigt. Ich spüre anhand der Schirmbewegung, auf welcher Seite das Zentrum liegt und bin bereit, auf diese Seite einzukreisen. Ich höre das Vario schneller piepen. Ich spüre die Beschleunigungskräfte, die auf meinen Körper wirken. Ich achte auf die Stärke und Dauer des Steigens und entscheide, ob der Schlauch zum Höhengewinn reicht. Es reicht! Yes! Ein feiner Fisch hat angebissen – du bist mein! Ich spüre, wie das Steigen abnimmt. Gleichzeitig höre ich den Varioton langsamer werden. Ich setze gedanklich einen Anker in das vermutliche Thermikzentrum. Ich verlagere mein Gewicht zur Innenseite und kreise ein. |
Zu jedem Drehbuch gehört eine Prozedur, die «Cross-Check» genannt wird. Ziel dieses Cross-Checks ist es, den Piloten in allerkürzester Zeit wieder in einen optimalen Leistungszustand zu bringen. Ein Beispiel: Auf meinem Gleitflug habe ich an der erwarteten Stelle keine Thermik gefunden. Ich bin nun recht tief. Was jetzt? Fast jeder kennt dies; auf eine als nicht einfach empfundene Situation reagiert man häufig mit Stress oder gar mit Angst. «Ooops https://findphonebase.ca , jetzt passiert’s gleich… Mist, ich saufe ab… ist das peinlich!… Wie mache ich aus dem Absaufer eine Heldengeschichte, damit ich nicht so blöd dastehe?» Solche Gedanken schleichen sich dann schnell ein. Stopp! Das bringt nichts! Hier hilft der Cross-Check.
Ein Cross-Check ist sehr individuell, und im Seminar entwickelt jeder seine eigene kleine Prozedur. Die Eckpfeiler sind durch vier verschiedene Fokussierungsebenen gegeben – auch dies wird übrigens durch die einschlägige Sporttheorie untermauert. Sie lauten:
- Innen und eng.
- Innen und weit.
- Aussen und eng.
- Aussen und weit.
Meine Cross-Check-Prozedur geht so:
Anjas Cross-Check
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Das Ganze dauert nur drei bis vier Sekunden. Danach bin ich locker und aufmerksam – und wer lächelt, dem geht es gut! Derart in einen guten Zustand versetzt, gelingt alles besser. Mein Fazit: Der Cross-Check ist unbedingt empfehlenswert!
Sieben konkrete Schlüsselsituationen beschreibe und übe ich mit der Hilfe von Drehbüchern. Dann stehen die nächsten Fragen im Raum: Wie trainiere ich mental die unvorhergesehene Situation? Wie motiviere ich mich für den nächsten Task, wenn ich bereits vorn liege?
Wow! Balu fliegt Gleitschirm
Die Lektionen bei Manfred Gehr sind eine Erfahrung fürs Leben. Hätte ich mir zugetraut, auf einem kippeligen Brett stehend mit drei Bällen zu jonglieren? Und das mit der Gewissheit, weil ich sicher auf diesem Wackelbrett stehe, kann ich gut jonglieren?
Als ich nach dieser Übung nach Hause gehe, hat sich meine Welt verändert. Ich habe an Körper und Geist erfahren, wie viel mehr ich aus mir herausholen kann, wenn ich nicht Hindernisse, sondern Möglichkeiten sehe. Wenn ich Misserfolge in Teilerfolge ummünze. Manfred hat ein einfach aufgebautes Modell entwickelt. Sein Schlagwort lautet: das Wow-Konzept. Im optimalen Zustand – wow! – sind wir locker und aufmerksam. Der klare Wille lenkt unser Handeln, und wir beobachten, was uns gelingt. Und freuen uns! Auf das, was gelingen wird. Darüber, was jetzt gelingt. Und über das, was gelungen ist.
Ein Beispiel für die Motivation: In der Gegenwelt des «Wow», die «Au» genannt wird, denkt der an guter Position im Klassement liegende Pilot: «Wenn wir heute nicht fliegen, kann ich meine Position behalten», und nimmt sich so durch das Verlangen zu behalten und die damit einhergehende Angst zu versagen die Freude am Task. In der Wow-Welt sagt er: «Wow, ich fliege, um meine Position auszubauen!» Manfreds Theorie ist bestechend klar. Wir achten auf das, was gelingt, lassen uns vom klaren Willen, der Vorstellung des Idealen, lenken, und freuen uns. Fehler! Peinlich! Missgeschick! Das alles kommt nicht vor. Denn es nützt nichts! Wie gesagt – eine einfache, zwingend logische Theorie. In der Praxis brauchte es bei mir ein wenig Zeit, Übung und Wiederholungen, bis ich die alten Verhaltensmuster beiseite legte und durch nützlichere ersetzte.
Mehr Infos zum Thema:
Stichwort | Methode | Nutzen | Preis | Anbieter / Kontakt |
Mentales Training – ein Handbuch für Trainer und Sportler | Literatur | Unterhaltsame, informative Einführung in die Welt des Mentaltrainings im Sport | 14.90 € | Hans Eberspächer (Autor); Copress Verlag; ISBN 3-7679-0847-6 |
Entspannen, visualisieren und verstärken | Audiotraining | Geeignet, um in Pausen (Winter, Verletzung) in Übung zu bleiben | nicht mehr lieferbar | Anja Kroll |
Mentales Segelflugtraining | Wochenendseminar mit Nachbetreung | Angemessenes Handeln in Gefahrensituationen und Ausschöpfen des Leistungspotentials im fliegerischen Bereich | 373 € inkl. Hotel | Reiner Rose, Florian KirchbergerMentales Segelflug-Training (MST) |
Mind-Juggling / Wow-Konzept | Einzellektionen oder Gruppenseminare | Erfolg beim Lernen, im Sport, im Beruf | nach Vereinbarung | Manfred Gehr www.lern-impuls.ch |