Ein Boomerang in Australien

Als Rosi mich Anfang Februar bittet, für unsere Vereinszeitung, die Flädermuus, über meine Teilnahme an der Weltmeisterschaft in Manilla zu schreiben, sage ich ohne Zögern zu. Schliesslich bin ich mir sicher, dass uns drei wunderbare Flugwochen in einem der besten Streckenfluggebiete der Welt bevorstehen. Und entsprechend meinen Leistungen zu Ende der Saison 2006 habe ich mir vorgenommen, einen Podestplatz zu erfliegen.

Wie es wirklich war, konntet ihr ja mittlerweile im Swiss Glider lesen. Was also noch schreiben? Nun, es war trotz allem … outstanding! Ich fange von vorn an…
Während sich im WM-Vorfeld meine Konkurrenten beim XC-Open an Leistungen überbieten, und Ewa mit ihrem Wolkenflug für Medienpräsenz rund um den Globus sorgt, sitze ich neidisch im Büro. Na wartet! Ich komme… Bei der Anreise des Schweizer Restteams haben es aber nicht alle so eilig wie Karin, die ihren Chrigel drei Wochen entbehren musste, und ich. Meine Motivation schnellstens nach Manilla zu kommen: drei flugarme Monate liegen hinter mir, und ein neuer Wettkampfschirm wartet auf den Erstflug. Da zählt jede Flugstunde, die ich mich mit dem neuen Gerät anfreunden kann. Nun, die Mehrheit setzt sich durch, und wir verbummeln einen Tag mit Sightseeing in Sydney. Ja, die Oper ist wirklich sehenswert.
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Löru, unser Helfer, vor der Oper in Sydney
Endlich fahren wir nach Norden. Manilla, wir kommen! Auf der Hinfahrt kann ich mich an den Wolkenstrassen gar nicht satt sehen. Das wird sensationell! Den ganzen Winter über habe ich mich auf diesen Wettkampf mit Kraft- und Ausdauertraining und mentalem Training eingestellt. Ich bin fit… Wenn wir jeden Tag fliegen, one way mit Rückenwind, und lange Rückholer bis spät in die Nacht haben – mir soll es recht sein. Je länger der Wettkampf dauert, desto mehr werde ich von meiner Kondition profitieren.
Wir kommen in Manilla an. Das Städtchen ist übersichtlich. Ohne Mühe haben wir kurze Zeit später das Herz der Gleitschirmsszene entdeckt, den örtlichen Pub. Dort frage ich mich durch – wo Gin sei, er habe meinen Schirm… Keine zehn Minuten später weiss ich: Gin ist oben auf dem Mt. Borah, 

zuschauer bei der eröffnungsfeier
Als Auftakt zur Eröffnungfeier eine Parade durch den Ort (Foto: Martin Scheel)

wo er den nach und nach eintreffenden WM-Teilnehmern „ihre“ fabrikfrischen Schirme persönlich überreicht. Um halb drei sind wir oben. Tatsächlich: Gin und sein Testpilot Seyong sind da. „Hello Anja, here is your Boomerang 5.“ Wow!
Der findet dann doch nicht statt. Wir erhalten zunächst einen Task. Louise Crandal, mein grosses Vorbild, fragt ausgerechnet mich beim Briefing, wie man noch mal genau das MLR bedient. Ich glühe vor Stolz, dass ich ihr helfen kann. – Kurz vor dem Start ist der Himmel dunkelgrau, und statt „window open“ heisst es „the task is cancelled“.
Der Plan ist nicht schlecht, aber er geht nicht auf. Mein Fehler: ich bin so fixiert darauf, hoch zu fliegen (was mir bestens gelingt), dass ich von meiner Position zwischen den Wolken nicht sehen kann, wie sich Piloten auf den Weg machen. Obwohl ich fortwährend Ausschau halte, verpasse ich den Abflug mehrerer Grüppchen. Unter der schattigen Basis sitze ich wie auf Kohlen. Längst ist die Startdeadline, die ich mir gesetzt habe, verstrichen, und immer noch hängt der Hauptpulk paralysiert über dem Startplatz. Um halb vier fliegen wir los, und leider kommt es, wie ich vermute: der Tag hat sich für mich ausgethermikt, bevor ich die letzte Boje nehmen kann.
Der Mittelteil ist Routine. Immer schön dran bleiben, und gut drehen. Es läuft nicht schlecht. Die Weltklassepiloten um mich herum sind schon ein wenig besser, zugegeben, und so rutsche ich allmählich ans Ende des Führungspulks. Aber das Ziel ist nah, und ich weiss genau, was ich jetzt tun muss: aufdrehen, bis nichts mehr geht. Die anderen sind längst weg, im Endanflug, als ich noch versuche, den letzten Rest aus meiner Warmluftblase herauszuholen. Und eigentlich reicht mir das immer noch nicht, aber wenn ich jetzt nicht losfliege, verliere ich die mühsam erworbene Höhe wieder. Gleichsam mit angehaltenem Atem hole ich die letzte Boje. Als ich endlich die Ziellinie erkenne, erschrecke ich: sie ist viel zu weit. Baumreihen versperren den Anflug auf die Wiese mit der weissen Linie. Ein Fluss ist noch zu queren, unter mir bebautes Gelände. – Und eine Strasse! Ich fliege oberhalb des warmen Asphalts, und ziehe meinen Schirm erst im letzten Moment über den Fluss in Richtung Ziel. Was sollte die Panik bloss, ich habe ja noch reichlich Höhe über der Ziellinie: fast 2 Meter! Ach ja, und jetzt endlich wieder Luft holen. Und jubeln! Platz 9 overall, direkt vor dem späteren Weltmeister Bruce Goldsmith.
Wird doch noch alles gut für mich? Task 4, elapsed time mit mehreren Startzeitpunkten. Als das Startfenster aufgeht, ist mir mal wieder nicht klar, von welchem der drei in Frage kommenden Startplätze ich am besten in die Luft gehen soll. Ich entscheide mich für den Südstart, und das erweist sich als falsch. Die Piloten vor mir warten schier ewig. Als ich endlich dran bin, sind fast alle schon in der Luft, viele bereits an der Basis. Die Startbedingungen sind zweifelhaft. Ich ziehe auf, der Schirm steigt gut, ich drehe aus und beschleunige. Und komme nicht weg. Das Gelände ist nicht steil genug… Wahrscheinlich bin ich im Lee einer Thermik. Kopfvoraus tauche ich mit mehr als dreissig Kilo Zuladung den Hang hinunter, der klassische Fehlstart. 10 Minuten später habe ich mich wieder sortiert, und versuche es von Südosten, was auch gelingt; aber fürs Selbstvertrauen ist so ein Fehlstart nicht gut. An diesem Tag kurbeln mich alle aus. Ich will nicht wieder zu spät auf Reisen gehen, und so gehe ich zu früh, nämlich ohne an der Basis zu sein. Mein kürzester Flug, dafür mit einem einsamen Aussenlandeplatz und dem längsten Rückholer.
Die WM ist für mich gelaufen. Der letzte Task, wieder elapsed time. Am Mt. Borah ist es erneut furchtbar stabil und steigt kaum. Zur zweiten Startzeit bin ich an der Startlinie, habe gut Höhe, und bin auch nicht allein – ok, das passt. Und dann läuft einfach alles glatt! Je weiter wir kommen, desto labiler wird die Luft. In Zielrichtung zieht gerade ein Schauer durch. Ich muss nie tief fliegen, und kann entspannt von oben beobachten, wie meine Mitflieger kämpfen. Dass ich bereits im Endanflug bin, realisiere ich viel zu spät. Die letzten 20 km fliege ich nämlich nur noch geradeaus, und mit einer peinlich grossen Höhenreserve überquere ich die Ziellinie. Zum Abbauen brauche ich mehr als 10 Minuten. Platz 12 overall, wieder Punkte fürs Team, und zu guter Letzt ein Laufsieg bei den Damen.

Vor diesem Flug bin ich sehr aufgeregt. Es ist ziemlich windig am Start, jedenfalls wenn man die Startbedingungen an der Ebenalp gewohnt ist. Der Schirm hat nur drei Leinenebenen – und das soll funktionieren? Und dass Gin und Seyong mir beim Start zugucken, steigert meine Nervosität zusätzlich. Dann ein gutes Omen: ein Känguruh – das erste live in Australien – hoppelt über den Startplatz und verschwindet in den Büschen. Also los! Der Schirm fliegt, fliegt gut, und Martin macht von meinem Boomerang-5-Jungfernflug Fotos, nachdem er Andi, Steve und Chrigel abgelichtet hat.
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Nummern kleben (Foto: Martin Scheel)
 Doch es gibt noch viel zu tun. Am nächsten Tag will ich gerade aufziehen, als Gin mich bittet, noch einen Moment zu warten – eine neue Trimmung soll die Drehfreudigkeit verbessern. Das ist jetzt wie beim Boxenstopp in der Formel 1: ich hocke angeschnallt in meinem Gurtzeug, während Gin auf der einen und Seyong auf der anderen Seite Bremse und C-Ebene neu trimmen. – Am nächsten Tag müssen wir die Traggurte ändern. Beim Einfliegen hat sich herausgestellt, dass das verwendete Material an den Traggurten beim Beschleunigen zu schnell verschleisst. Mit zwei Rollen und Beschleunigerleinen bauen wir in der „Gin mobile factory“ am Startplatz im Akkord die Traggurte von zig Boomerang 5 um. Die neuen Traggurte sind schon bestellt, werden aber erst übermorgen eintreffen, und morgen ist bereits der erste Wettkampftag.
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Allgemeine Unterweisung und Sicherheitsbriefing (Foto: Martin Scheel)
Endlich der erste Task, ein Speedrun. Eigentlich mag ich diese Rennform. Bislang habe ich jeweils eine frühe Startzeit genommen, und die GAP-Formel belohnt das Risiko der Vorausfliegenden mit Extrapunkten. Doch genau diese „early-bird“-points soll es heute nicht geben. Eine ungünstige Situation. Mir ist klar, dass das zu einer ewigen Warterei führen wird; der Pulk wird spät losfliegen, gerade rechtzeitig für die ganz schnellen, aber zu spät für langsamere Piloten wie mich. Allein mag ich auch nicht fliegen – dazu fehlt mir schlicht die Erfahrung in diesem Gebiet. Also nehme ich mir vor, trotz fehlender Bonuspunkte mit der erstbesten Gruppe zu fliegen; allerspätestens um drei will ich unterwegs sein, um noch lang genug gute Tagesthermik vorzufinden.
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Zuschauer am Südstart (Foto: Martin Scheel)
„Bei einer WM darf man keinen Lauf verpatzen, wenn man vorn dabei sein will,“ hat uns Teamchef Martin Scheel schon im Junior’s Challenge beigebracht. Und jetzt sowas. Nach dem ersten Lauf habe ich den Wettkampf bereits versiebt. Und das Team leider auch – der Traum vom Mannschaftsgold ist zerplatzt wie eine Seifenblase.
Es kommt noch schlimmer. Regen, Regen, Regen. Zwischendurch mal wieder ein Micky-Maus-Lauf, eine langsame, geschlossene Aufgabe. Nach einem bomb out mit Zweitstart kurz bevor das Startfenster geschlossen wird, bin ich wieder zu spät unterwegs und komme wieder nicht ins Ziel.
Der dritte Task ist ein Race. Ich verpatze den Luftstart: später als etwa 140 andere Piloten und auch nicht ganz oben überfliege ich die Startlinie. Die ersten sind schon am Wendepunkt in Manilla. Ein eigenartiges Bild bietet sich da. Ich erwarte, wie üblich den Führungspulk aus einer Thermik aufsteigen zu sehen. Statt dessen kann ich genau beobachten, wo es überall nicht geht. Ich suche mir das einzige Grüppchen aus, das steigt, wenn auch kaum wahrnehmbar. Das ist Wunder Nummer eins des Tages. Der späte Start hat mir eine Position im Spitzenpulk beschert. Noch ein weiteres Wunder brauche ich, denn nachdem wir die Manillathermiksenke überstanden haben, stehen wir kurz drauf zum zweiten Mal fast am Boden. Steve zieht direkt vor mir einen kräftigen Bart aus dem Boden. Wir steigen zügig bis zur Basis durch und sind nun in einer superkomfortablen Position, nicht ganz vorn, aber sehr dicht dran und vor allem sehr hoch, höher als alle anderen. Maximale Kontrolle über das Feld, aus taktischer Sicht das rote Luxussofa.
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Weststart am Mount Borah (Foto: Martin Scheel)
Die schlechte Nachricht: meine lieben Teamkollegen Stef, Steve und Brünel haben zu viel Gas im Endanflug gegeben. Obwohl sie höher abfliegen konnten als ich, hat es ihnen nicht ins Ziel gereicht. So punkte ich also fürs Team.
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Pulk (Foto: Martin Scheel)
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Ziel im letzten Task (Foto: Paul Matthews)
 Und wäre da nicht dieser Belgier gewesen, der schon die erste Startzeit genommen hat und als einziger seiner Gruppe das Ziel erreicht hat, dann hätte ich viel mehr Bonuspunkte bekommen, und dann wäre ich noch aufs Solo-Treppchen geflogen. Hätte, wäre,… Dieses Mal hat es nicht gelangt. Der dritte Platz mit dem Team ist mein Trostpflaster. Und nun noch Genuss: die Pilotenparty mit der australischen Band Tijuana Cartel hält uns bis in den Morgen auf den Beinen. War doch noch glatt!